Im August verfasste die Frankfurter Allgemeine Zeitung eine ziemlich düstere Prognose für die bevorstehende Saison 2018/19. „Bei nüchterner Betrachtung“, schrieb die FAZ, „ist die Bundesliga zu einer ziemlich langweiligen Angelegenheit verkommen.“
Der Pessimismus war nicht unberechtigt. Die sechste Bayern-Meisterschaft in Folge, das furchtbare Abschneiden der deutschen Klubs im Europapokal, die WM-Blamage von Russland: Nichts deutete darauf hin, dass die Spielzeit eine besonders abwechslungsreiche werden könnte.
Heute muss man feststellen: Selten so geirrt. In der Woche vor dem letzten Spieltag widerlegen neueste Zahlen vom Münchener Datenspezialisten „Opta Sports“ das unterschwellige Gefühl, dass die Bundesliga ihren Unterhaltungswert verloren hat.
In keiner anderen Top-Liga fallen im Schnitt mehr Tore: 3,14 pro Spiel. Nirgendwo langweilen weniger Nullnummern die Zuschauer: nur 16 in 297 Spielen. Und in 30 Spielen fielen mindestens sechs Tore. Auch das: Bestwert in Europa. Ist die Bundesliga besser als ihr Ruf?
Ein Jahr zuvor quälten Trainer das Publikum regelmäßig mit einer Spielweise, die ihre Absurdität in der Wertschöpfung „gegen den Ball“ ausdrückte. Zwei von drei Bundesliga-Teams verzeichneten weniger als 50 Prozent Ballbesitz, was ihren Matchplan verriet: lieber zerstören als gestalten.
Der damalige Schalker Trainer Domenico Tedesco wollte im Nichtangriffspakt eine eigene Ästhetik auf dem Rasen entdeckt haben: „In Schönheit sterben oder kämpferisch gewinnen — da nehme ich lieber die zweite Variante.“ Schalke wurde Vizemeister mit nur 63 Punkten. Ein Rekord.
Die „Zeit“ fand eine hübsche Beschreibung für die damals landesweit zu beobachtende Mutlosigkeit unter jenen, die als Laptop-Trainer verspottet wurden: „Es begegnen sich zwei Kaninchen, die sich für Schlangen halten.“ Keiner wollte unnötig ins Risiko gehen.
„Deutsche Trainer feilten daran, die Rückeroberung des Balls zu perfektionieren, ohne sich zu überlegen, was die Mannschaft mit der Kugel im Anschluss anfangen soll“, stellte der Fußball-Analyst Tobias Escher bei den Bundesligisten fest.
Escher beobachtete eine Verrohung des Spielstils: „Teams hetzten sich gegenseitig über den Platz, warfen sich in die Zweikämpfe. Nur Fußball spielten sie selten.“ Die Passquote drückt in der Statistik das Zusammenspiel mit dem Ball aus – und die sei kontinuierlich gesunken.
Inzwischen ist das anders. Der Tedesco-Fußball ist ein Auslaufmodell. Im Duell mit Bayern hat Dortmund mit 73 Punkten nicht nur die Entscheidung um die Meisterschaft auf den 34. Spieltag verschieben können. Im Opta-Zahlenwerk finden sich Indizien für einen Richtungswechsel.
Aus einer Passgenauigkeit von 71 Prozent in der gegnerischen Hälfte lässt sich mit ein bisschen guten Willen Waghalsigkeit im Angriffsspiel ableiten. In keiner anderen Top-Liga fallen mehr Tore aus dem Spiel heraus: exakt drei von vier (74 Prozent). Nur in England wird weniger gefoult.
Zu den Binsenweisheiten des Fußballs gehört freilich, dass Tore nur dort fallen, wo Fehler passieren. Man kann also genauso umgekehrt argumentieren: Die Qualität im Abwehrbollwerk hat nachgelassen. Und Hoffnung verbreitet die bunte Statistik nur bedingt.
„Schon in jungen Jahren steht Gegenpressing, nicht etwa das Lösen von Situationen auf dem Plan“, meint Fußball-Analyst Tobias Escher. „Die Folge: In der Bundesliga spielen heute mehr französische Innenverteidiger-Talente als deutsche Spielmacher.“
Thiago Alcántara in München, Axel Witsel in Dortmund, Emil Forsberg in Leipzig – tatsächlich überlassen die drei besten Bundesliga-Mannschaften das Kommando in ihren Schaltzentralen Gastarbeitern aus Spanien, Belgien und Schweden.
Die Deutschen, die es könnten, Toni Kroos, Ilkay Gündogan oder Sami Khedira, spielen selbst im Ausland. Im Moment ist nicht abzusehen, woher Bundestrainer Joachim Löw seine neuen Führungsfiguren fürs Mittelfeld akquirieren soll. Vielleicht Kai Havertz von Bayer Leverkusen.
Die Trainer müssen zunächst ihren Arbeitsplatz sichern und nicht die Nachwuchsarbeit. Jeder dritte Erstligist wechselte diese Saison den Trainer. Offenbar verstehen die ihren Job. 138 Jokertore zählte die Liga: Jedes siebte Tor wurde eingewechselt. Auch das: ein Rekordwert.